Kommunalpolitischer Ratschlag: Vom Willkommen zur Integration

Wie funktioniert die Integration von Geflüchteten in Ausbildung und Arbeit? Welches Wohnen kommt nach der Notunterkunft? Wie geht man mit "besorgten Bürger/innen" um? Auf dem kommunalpolitischen Ratschlag "Vom Willkommen zur Integration" am 5. März in Hannover tauschten 100 Kommunalpolitiker/innen und ehrenamtlich Engagierte ihre Erfahrungen aus.

„Politik für Geflüchtete ist wahnsinnig dynamisch“ sagte Sabine Drewes zur Begrüßung und ließ das vergangene Jahr Revue passieren: Prägten zunächst noch die freundliche Frau Merkel und viele helfende Hände das Bild, wurden spätestens seit letzten Sommer die Stimmen von Seehofer bis Pegida immer lauter – und die Zahl der rechtsextremen Straftaten stieg 2015 um 30 Prozent auf 13.000. Ohnehin bestehende Probleme wie fehlender Wohnraum und unzureichende Bildungschancen seien sichtbarer geworden. Diese bisherige Entwicklung gebe „jenseits vom Ponyhof einen Vorgeschmack darauf, was Integration auch bedeutet“, sagte die Referentin für Kommunalpolitik und Stadtentwicklung in der Heinrich-Böll-Stiftung. Kommunen seien die Orte, an denen Integration passiert und in denen Kommunalverwaltung und Ehrenamt nun die Chance haben, zu ganz neuen Formen der Kooperation zu kommen.

Dementsprechend waren über 100 Teilnehmende aus Kommunalpolitik und -verwaltung sowie aus der haupt- und ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit zum Erfahrungsaustausch nach Hannover gekommen. Die Tagung war eine Kooperation der Heinrich-Böll-Stiftung mit der Stiftung Leben & Umwelt/Heinrich-Böll-Stiftung Niedersachsen.

Flüchtlingsein ist kein Beruf – Postintegratives Konzept des pragmatischen Realismus

Regionale Unterschiede könne man zwar nicht unter den Tisch fallen lassen, aber: „Best Practice entscheidet sich nicht an der Ausgangslage, sondern hauptsächlich an der Haltung der Akteure“ stellte Sabine Drewes noch fest und leitete damit direkt zu den Thesen von Erol Yildiz über. Der Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck kritisierte, dass das Migrant/in- oder Flüchtling-Sein in der öffentlichen Debatte teilweise als Beruf wahrgenommen wird. Yildiz hielt dem Publikum im doppelten Sinne den Spiegel vor: Am Beispiel der Titelbilder der gleichnamigen Hamburger Zeitschrift zeigte er, wie schon seit den 1990er Jahren – „Ansturm der Armen“ – gesellschaftliche Bilder entstünden.

„Eigentlich geht es um Menschen“ erinnerte er und plädierte für einen entdramatisierten Blick. So würden sich laut einer Umfrage des ARD-Magazins Monitor vom Februar 2016 nur sechs Prozent der Städte und Gemeinden bereits jetzt von den steigenden Flüchtlingszahlen überfordert fühlen.

Yildiz skizzierte sein postintegratives Konzept des pragmatischen Realismus: Dazu zählen eine Reflektion der historischen Erfahrungen im Umgang mit Flucht sowie andere Bilder und Deutungen. Mithilfe der zivilgesellschaftlichen Infrastruktur vor Ort und über informelle Lösungen unterhalb von Institutionen könnten breite positive Synergieeffekte entstehen.

Die aktuellen Fluchtbewegungen könnten sogar Anlass sein, das Bildungswesen oder den Wohnungsmarkt zu demokratisieren. Statt die Defizite der Menschen zu sehen, sollten Flucht und Migration als Ressource und Herausforderung betrachtet werden: „Wir brauchen eine pragmatische Haltung, die von der Alltagspraxis ausgeht.“ Der Soziologe konnte konkrete Beispiele nennen, etwa den Fonds Soziales Wien, der AsylbewerberInnen für gemeinnützige Arbeiten in Einrichtungen der Stadt vermittelt, etwa zum Digitalisieren von Dokumenten. Oder die Kiron University, wo man trotz fehlender Unterlagen kostenlose englischsprachige Online-Kurse belegen kann.

Goslarer Modell gegen den Bevölkerungsrückgang?

Eine pragmatische Haltung legte auch Oliver Junk (CDU) an den Tag. Der Oberbürgermeister im niedersächsischen Goslar erlangte letzten Sommer bundesweite Bekanntheit, als er mehr Flüchtlinge als vorgesehen in seiner Stadt aufnehmen wollte. Hintergrund dieser Haltung ist der demografische Wandel – zwischen 2002 und 2012 sank dort die Bevölkerung um 4.000 auf 40.000 Einwohner/innen, mit den bekannten Folgen für Infrastruktur und Finanzen. Ein Rückbau stoße an Grenzen: Ein 50-Meter-Becken könne man nicht verkürzen und die Wassertemperatur nicht jedes Jahr um 1° absenken, nur das Schwimmbad komplett schließen, so Junk, doch dann werde die Stadt noch unattraktiver. Auf der anderen Seite fehle es am Arbeitskräfte-Nachwuchs. Derzeit gebe es 25.000 Arbeitsplätze in Goslar, unter anderem in der Chemieindustrie und bei Auto-Zulieferern; viele Beschäftigte kämen demnächst ins Rentenalter. Gebraucht würden nicht nur Akademiker/innen, sondern auch Personal für einfachere Tätigkeiten.

Der Oberbürgermeister will nicht den Königsteiner Schlüssel verändern, sondern schlug folgenden Deal vor: Seine Kommune nimmt zum Beispiel Göttingen Flüchtlinge ab, die Zuständigkeit für deren Kontingent verbleibt jedoch bei der Universitätsstadt. Die eingesparten Mittel (die Menschen könnten im Oberharz dezentral und billiger untergebracht werden), würde er gern für Integrationsprojekte einsetzen.

Junk räumte ein, dass dieses Integrationsmodell nur in Mittelstädten mit Arbeitsplätzen und nicht in entlegenen Ortsteilen im ländlichen Raum funktionieren könne. Deswegen halte er auch nichts von Wohnsitzauflagen. Noch ist das Goslarer Modell nur eine Idee, beim niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD) sei er abgeblitzt. In der anschließenden Diskussion wurde Junk mehrfach auf das Ausländerrecht, die Haltung der Behörden und vorschnelle Abschiebungen angesprochen. Das sei eine Frage der Führung des Ausländeramtes – und wenn diese sich hartherzig zeigt, stößt auch ein Oberbürgermeister an seine Grenzen: „Dann muss man warten, bis der Fachbereichsleiter in Rente geht“.

Der CDU-Politiker bemängelte auch, dass Bürokratie und Mindestlohn eine zu hohe Hürde für die Unternehmen seien, um Flüchtlinge ohne oder mit geringen Sprachkenntnissen Arbeit zu geben. „Es braucht fünf Jahre, bis ein ‚durchschnittlicher‘ Flüchtling in eine ‚durchschnittliche‘ Beschäftigung kommt.“ Das, so Junk, müsse zur Integration eigentlich schon jetzt passieren. Der Christdemokrat verbreitete grundsätzlichen Optimismus: „Der Merkel-Kurs ist mehrheitsfähig.“ Für gewählte Kommunalpolitiker/innen mahnte er an, sie müssten es „im Kreuz haben“, sich rechtem Populismus entgegenzustellen: „Dafür sind wir gewählt.“

Workshop 1: Wohnungsbau und Unterbringung – Langfristige Lösungen und politisches Handeln

Kurzfristig sind zwar temporäre Lösungen zur Unterbringung der Flüchtlinge unvermeidbar, aber dabei sollte man durchaus die langfristigen Folgen mitdenken – das ist eine zentrale Erkenntnis aus dem Workshop zum Thema Unterbringung. Wie das geht, zeigen die Städte Münster und Bremen.

Münster: Klare Grundsätze, Konversion als Glücksfall

„Die Leute sollen ja wohnen bei uns, sie sollen nicht untergebracht werden“, brachte Gerhard Joksch (Grüne), Stellvertretender Bürgermeister von Münster, den Ansatz seiner Stadt auf den Punkt. Angesichts der aktuellen Entwicklung sei die maximale Bewohnerzahl einer Einrichtung zwar von 50 auf 200 Personen angehoben worden, wesentliche anderen Grundsätze der dezentralen Unterbringung würden jedoch nach wie vor gelten: So seien Unterkünfte über alle Stadtteile verteilt, hätten eine Haltestelle und Versorgungseinrichtungen in der Nähe und würden die hohen Münsteraner Baustandards erfüllen. Darum gebe es zwar immer wieder Auseinandersetzungen, bei den überdurchschnittlich hohen Münsteraner Wärme-Standards musste man auch Konzessionen machen. „Aber eine kontrollierte Lüftung muss sein, vor allem wenn viel Menschen unter einem Dach leben“, so Joksch.

Schulen, Turnhallen oder Hotels scheiden laut Joksch als Unterkünfte aus und das Anmieten von Gebäuden sei unbezahlbar. Neubauten würden so geplant, dass sie später mit geringen Umbauten als Wohnungen genutzt werden können und als aktuellstes Projekt zeigte er ein Bild einer Unterkunft aus Holz, die besonders schnell zu errichten und außerdem noch weitaus billiger sei als Container.

Interessant war seine Folie über die Baukosten der in Münster realisierten Einrichtungen für jeweils 100 Personen: Am teuersten sei der konventionelle Massivbau mit 2,9 bis 3,1 Millionen Euro, gefolgt vom Container-Kauf (2,2 Millionen Euro) und der Elementbauweise mit Holz (1,9 Millionen Euro). Der Umbau einer ehemaligen Kaserne habe 1,1 Millionen Euro gekostet. Durch den Abzug der britischen Armee sei Münster in der glücklichen Situation, über Kasernen und Wohnungen verfügen zu können, räumte der Grünen-Politiker ein.

Wie Joksch andeutete, seien die Verhandlungen mit der BIMA, der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, allerdings nicht gerade einfach; außerdem habe man eigentlich andere Pläne mit den Gebäuden – unter 6.000 Euro pro Quadratmeter wäre in Münster keine Wohnung zu haben. Seine auch andernorts geltende Schlussfolgerung ist ein ganz dickes Brett: Es gibt nicht genug bezahlbaren Wohnraum – und dieses Problem könne der private Wohnungsmarkt nicht alleine lösen.

Bremen: durchdachte Container-Siedlung in guter Nachbarschaft

Das „Blaue Dorf“ in Bremen-Grohn stellten Architekt Tobias Kister und Heimleiterin Marija de Gast vor: Auf den Rat einer Mitarbeiterin mit Migrationshintergrund seien die Container so aufgestellt worden, dass sie Innenhöfe bilden, womit Hausgemeinschaften entstünden und muslimische Frauen mehr Bewegungsfreiheit bekämen. Statt „Legebatterien“ mit Sammelküchen hätten vier Personen auf 48 Quadratmetern mehr Rückzugsraum und eine eigene Küche. Das ermögliche den Leuten zur Ruhe zu kommen, so Kister.

Wichtig sei eine Anlaufstelle vor Ort, an die sich die Geflüchteten mit all ihren Fragen wenden können. Diese Aufgabe nimmt im Blauen Dorf Marija de Gast als Leiterin wahr. Mit großer Empathie erzählte sie vom gemeinsamen Ostereier-Suchen, der Kinderbetreuung oder dem Fitnesskurs für Frauen. Die Unterkunft profitiere stark von der guten Nachbarschaft, insbesondere die Studierenden einer nahen privaten Hochschule seien sehr engagiert und kämen jeden Tag.

Der Markt bestimmt den Preis

Nach diesem inspirierenden Input wurden in der anschließenden Diskussion die Mühen der Ebenen mehr als deutlich: So ist der Containermarkt aktuell leergefegt – Kister: „Rien ne va plus“ – und die Angebotspreise für den Bau von Unterkünften schießen derzeit in ungeahnte Höhen. Mancherorts wollen die Wohlfahrtsverbände den Kommunen „All-inclusive-Pakete“ inklusive Verpflegung der Flüchtlinge verkaufen und auch das Ausschreibungsrecht bereitet den Städten und Kreisen Probleme. Dort, wo keine „Goslarer Verhältnisse“ mit einem entspannten Wohnungsmarkt herrschen, werden kleine, dezentrale Unterkünfte zum kaum erreichbaren Ideal: Ein für die Unterbringung von Geflüchteten zuständiger Dezernent sprach von einem „absoluten Notfall-Modus“, in dem sich seine Verwaltung befände. Die Geschwindigkeit, in der Lösungen her müssen, fordere alle heraus.

Workshop 2: Angebote für unbegleitete Minderjährige – mit Perspektive

„Integration ist nicht das Ziel, sondern der Weg.“ Damit brachte Resa Deilami, Mitarbeiter der sozialpsychiatrischen Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche der Region Hannover, auf den Punkt, was für Geflüchtete allgemein, aber für unbegleitete Minderjährige in besonderem Maße gelte: kurzfristige Lösungen reichten nicht aus, um den Ankommenden zu geben, was neben ihrer Sicherheit das Wichtigste sei – eine Perspektive. Darüber herrschte unter den Workshop-Teilnehmenden große Einigkeit.

Es sind nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Jugendliche in der Pubertät

Deilami, selbst 1994 aus dem Iran nach Deutschland geflohen, betonte, dass die Minderjährigen während und nach ihrer Flucht gleich zwei Transformationsprozesse durchmachten. Zum einen haben sie belastenden Erfahrungen auf der Reise gemacht und müssten sich hier zunächst orientieren und langsam in die Gesellschaft finden. Zum anderen seien sie auch ganz normale Kinder und Jugendliche. Damit einher gingen die für die Pubertät und den Prozess des Erwachsenwerdens üblichen Unsicherheiten und Veränderungen. Hier könne richtig umgesetzte Integration eingreifen und verhindern, dass manche der Jugendlichen später auf die schiefe Bahn geraten. Dafür bedürfe es aber Programme, die auch die Prävention im Blick haben und den Jugendlichen Freiräume zum Gestalten lassen.

Zu jung und doch zu alt

„Wir waren strukturell nicht vorbereitet“, beschrieb Daniela Schneckenburger die bundesweite Ausgangslage rund um das Thema unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die Schul- und Jugenddezernentin der Stadt Dortmund berichtete von den Problemen und handhabbaren Lösungen, die bereits bei der Erstaufnahme der sogenannten UMF bestehen. Im Clearingverfahren beispielsweise solle auch das Alter derer festgestellt werden, die ohne Papiere reisen. Weil physische Untersuchungen zu wenig Aussagekraft besäßen, setzt man in Nordrhein-Westfalen auf Fragebögen. Etwa 60 Prozent gelten im Anschluss nicht mehr als minderjährig und würden nach den regulären Asylverfahren behandelt.

Ihr Podiumsnachbar Deilami sprach davon, dass diese jungen Flüchtlinge vielerorts über die für sie vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten nicht informiert würden, obwohl sie nach SGB VIII eigentlich bis zum 27. Lebensjahr einen Anspruch auf solche Leistungen hätten. Dasselbe träfe auf jene zu, die zunächst zwar als Minderjährige in Jugendeinrichtungen unterkämen, mit Erreichen der Volljährigkeit aber in reguläre Notunterkünfte wechselten. Ein Diskussionsteilnehmer fügte hinzu: „Wer 17 oder siebzehneinhalb Jahre alt ist, droht aus dem Bildungssystem zu fallen.“ Hier, so eines der Ergebnisse des Workshops, müssten neue Angebote geschaffen und transparent vermittelt werden.

Problem Personalnot

In der anschließenden Diskussion wurde von vielen Seiten die Personalnot in den Jugendämtern und Beratungsstellen beklagt, das mache sich zum Beispiel auch bei der Bestellung eines Vormundes bemerkbar. Habe zu Beginn vor allem das Geld nicht gereicht, fehle es nun häufig an qualifizierten Sozialpädagog/innen – ein strukturelles Problem, das man viel früher hätte erkennen können, so die Runde. Eine Lösung war, bei der Betreuung Ehrenamtliche und lokale Communities stärker mit einzubeziehen. Grundtenor vieler Beiträge: „Wir müssen uns mehr vernetzen.“

So empfanden viele Workshop-Teilnehmenden den Informationstransfer zwischen der Verwaltung und der Betreuung als unzureichend. Auch die einzelnen Fachbereiche wüssten untereinander oft nicht, was die anderen betreiben. Ohne genügend Informationen helfe auch die dickste Personaldecke nichts.

Integration vs. Inklusion

Das Verhältnis von Integration und Inklusion zog sich als Thema durch die gesamte Diskussion. Zwar wurde deutlich eine Anpassungsleistung der Jugendlichen eingefordert, aber mit den gleichen Pflichten müssten auch gleiche Rechte einhergehen. Auch die Gesellschaft müsse sich im Sinne der Inklusion anpassen und die Bedürfnisse nach Selbstbestimmung der Jugendlichen anerkennen. Daran seien auch die Inhalte der Unterhaltungs-, Informations- und Bildungsangebote auszurichten. Schließlich war sich die Runde darin einig, dass der Bund – beispielsweise mit dem Asylpaket II und dem ausgesetzten Familiennachzug – den Integrationsbemühungen einen Bärendienst erweist.

Workshop 3: Kommunale Kooperation mit Freiwilligen und Geflüchteten – Hilf mir, es selbst zu tun

Aus der Bremer Praxis berichtete Jan Fries (Grüne), Staatsrat im Sozialressort des Stadtstaates. Dort werde das vorhandene große Engagement der Ehrenamtlichen von Anfang an mitgedacht. Man müsse keine komplett neuen Strukturen der Flüchtlingshilfe schaffen, sondern könne an den funktionierenden Strukturen etwa in der evangelischen Kirche oder bei den Wohlfahrtsverbänden ansetzen und diese ausbauen und stärken.

Für Fries ist ein funktionierendes Hauptamt essentiell für das Ehrenamt, um Projekte zu initiieren, Öffentlichkeitsarbeit zu machen, Weiterbildungen zu organisieren und Ehrenamtliche zu vernetzten. Besonders wichtig sei dabei der direkte Kontakt zu den Leiter/innen der Flüchtlingsunterkünfte. Dort kenne man die Bedarfe am besten und die Sachspenden kämen da an, wo sie gebraucht werden.

Selbsthilfe und kleine Organisationen stärken

Aus Hannover berichtete Peyman Javaher-Haghighi, Projektleiter im Bereich Bildung und Qualifizierung vom interkulturellen Verein Kargah e.V.. Zunächst benannte er drei Gruppen von Geflüchteten, die mit jeweils sehr unterschiedlichen Themen und Problematiken konfrontiert sind: Neuangekommene, Geflüchtete im Asylverfahren und sogenannte Alteingesessene. Von der letzten Gruppe sei ein großer Teil sehr aktiv und bilde den Motor vieler Flüchtlingsorganisationen. Bei den anderen beiden Gruppen gehe es zunächst darum, ihre Selbsthilfe zu stärken. Darum kümmern sich in Hannover wie in Bremen Runde Tische und internationale Gruppen.

Darüber hinaus vermitteln nach Javaher-Haghighi Orientierungs- bzw. Integrationskurse mehr als Deutsch-Kenntnisse: Sie seien auch Plattform für Probleme, Sorgen und interkulturellen Dialog. Die LehrerInnen würden als Bezugspersonen fungieren und gemeinsam mit Flüchtlingen weitere Aktivitäten wie Fußballspiele, Nachbarschaftstreffen etc. organisieren. Javaher-Haghighi mahnte eine deutlich engere Zusammenarbeit der Kommunen mit den lokalen Initiativen und Vereinen an: Kleinere Organisationen kämen oft zu kurz, da es an Räumen und finanziellen Instrumenten fehle, um Projekte zu entwickeln oder Anträge zu stellen.

In der anschließenden Diskussion wurde vor einer Infantilisierung der Geflüchteten gewarnt. Stattdessen solle frei nach dem Motto „hilf mir, es selbst zu tun“ ihre der Selbsthilfe gestärkt werden. Vor allem gelte es, nicht nur über Geflüchtete zu sprechen, sondern mit ihnen – auch bei der Entwicklung und Durchführung von Projekten. Mit Nachdruck mahnte Javaher-Haghighi an, Geflüchtete differenziert und als heterogene Gruppe zu betrachten – nicht zuletzt, um besser auf individuelle Interessen und Bedürfnisse eingehen zu können.

Bürokratische Hürden bei den Sprachkursen

Als große Hürde werden die zertifizierten Sprachkurse wahrgenommen. Laut dem Bildungsgesetz für Erwachsene dürften nur bestimmte anerkannte Einrichtungen Zertifikate aushändigen, andere Institutionen, die Deutschunterricht auf dem gleichen Niveau anbieten, hingegen nicht. Das sei besonders frustrierend, da die Verbände oft nicht vom Staat finanziell unterstützt würden, obwohl sie die Schnittstelle zwischen Selbsthilfe von Geflüchteten und dem Staat bildeten. Hier wurde vor allem die Politik des BAMF stark kritisiert: Migrant/innen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern würden strukturell benachteiligt, da sie nicht an den BAMF-Kursen teilnehmen können und ihnen die angebotenen Sprachkurse nicht anerkannt werden.

Workshop 4: Integration in Ausbildung und Arbeitsmarkt: Mehr Gestaltungsspielräume vor Ort und individuelle Begleitung

Um Sprache und Sprachkurse als Problemfeld ging es auch in diesem Workshop. „Integration von Flüchtlingen kann nur über Bildung und Beschäftigung passieren“ – so verdeutlichte Dietmar Langer, Mitglied der Geschäftsführung des Jobcenters der Region Hannover, den Stellenwert der Arbeitsvermittlung.

Große Aufgabe für die Jobcenter

Dort seien bereits in den ersten beiden Monaten des Jahres 2016 ca. 500 neue Leistungsberechtigte zu verzeichnen, deren Asylverfahren positiv beschieden wurde. Auf das Jahr hochgerechnet wären das etwa 6.000 neue Antragsteller/innen alleine in der Region Hannover. Das stelle das Jobcenter vor große Herausforderungen, wofür sie 78 zusätzliche Stellen schaffen will.

Die Flüchtlinge brächten sehr unterschiedliche Qualifikationen mit: Etwa 80 Prozent verfügten nicht über eine Qualifikation, die unmittelbar eine Beschäftigung im deutschen Arbeitsmarkt ermöglicht. Viele sprechen kein oder kaum Deutsch. Doch die Wartelisten für Sprachkurse sind lang – ein frustrierendes Erlebnis für Menschen, die gerade ein langwieriges Asylverfahren hinter sich haben. Daher fordert Langer mehr und bessere Sprachförderung. Damit Flüchtlinge eine zeitnahe berufliche Perspektive bekommen, brauche es eine Verknüpfung von Ausbildung und Sprachunterricht.

Landkreis Miltenberg: Hoher Aufwand bei der Ausbildungsinitiative Asyl

Ähnlich sah das auch der Landrat des Landkreises Miltenberg, Jens Marco Scherf (Grüne). Der nordbayerische Landkreis gehört zur Metropolregion Frankfurt / Rhein-Main und ist ein Industriestandort mit hohem Fachkräftebedarf. In der Region gebe es momentan 500 unbesetzte Ausbildungsstellen. Dementsprechend würde Zuwanderung als Chance gesehen und es sei ein Appell der Industrie gewesen, Flüchtlinge auszubilden. Der Landrat musste nach eigenen Angaben sogar etwas auf die Bremse treten, damit die Euphorie nicht in Enttäuschung umschlägt. Wenn die jungen Flüchtlinge zu schnell und ohne Konzept in eine Ausbildung gesteckt würden, sei die Gefahr eines Abbruchs groß.

Daher setzte im Landkreis Miltenberg mit seiner „Ausbildungsinitiative Asyl“ auf ein mehrphasiges Modell: Zur dreimonatigen Vorbereitungsphase gehören nach Scherfs Erläuterung Kompetenzanalyse, Praktika sowie die Suche nach einer Ausbildungsstätte. Bewusst würde hier auf eine vorgeschaltete Berufsschule verzichtet. Daran schließe sich die dreijährige Berufsausbildung an. Um Abbrüche zu verhindern, gebe es eine intensive Begleitung und acht Stunden Sprach- und Förderunterricht wöchentlich. Für eine Einzelfallhilfe oder gar Krisenintervention stünden sozialpädagogische Kräfte bereit. An diesem Modellprojekt nehmen derzeit 15 jugendliche Flüchtlinge teil, weitere 15 sollen in den nächsten Monaten folgen, berichtete der Landrat.

Insgesamt zeigte sich Jens Marco Scherf zuversichtlich, dass die Integration der Geflüchteten im ländlichen Raum gelingen kann, vor allem wegen des Pragmatismus in der Bevölkerung. Wichtige für das Gelingen sei aber die Vernetzung aller mitwirkenden Helferkreise.

„Man schafft es nicht allein“

Diese Erfahrung teilte auch Christiane Götze vom Institut für Berufsbildung und Sozialmanagement in Erfurt: „Man schafft es nicht allein – wir brauchen mehrere Partner am Tisch.“ Ein Beispiel für ein Netzwerk sei „BLEIBdran – berufliche Perspektiven für Flüchtlinge in Thüringen“. Es ist eines von bundesweit 41 Netzwerken, die aus dem Europäischen Sozialfonds entsprechend der ESF-Integrationsrichtlinie gefördert werden mit dem Ziel, die Integration jüngerer Geflüchteter über berufliche Bildung zu unterstützen. Ein wichtiger Partner wäre hierbei die Ausländerbehörde: Sie entscheide darüber, ob Flüchtlinge im Asylverfahren ein Praktikum absolvieren oder eine Arbeit aufnehmen dürfen.

Rechtliche Probleme   

Problematisch sei, dass die Schulpflicht bzw. – bei über 16-Jährigen – das Recht auf Schulbesuch in den Bundesländern unterschiedlich ausgestaltet sei. Dies gelte auch für die Berufsschulpflicht bei bestehendem Ausbildungsverhältnis.

Die Frage, die alle drei Referent/innen bewegte: Wie bringt man rechtliche Möglichkeiten und Pragmatismus zusammen? Dietmar Langer drückte es pointiert aus: „Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsrecht, SGB II, SGB III – das versteht schon fast keiner mehr!“ Die Forderung der Runde: Wir brauchen einerseits klare gesetzliche Vorgaben und andererseits ausreichende Handlungsspielräume vor Ort.

Neben Angeboten, die auf unterschiedliche Voraussetzungen eingehen, brauche es eine intensive Beratung und Begleitung der Flüchtlinge, um ihnen einen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu eröffnen. Dies könne nur gelingen, wenn alle wichtigen Akteur/innen in einer Netzwerkstruktur zusammenarbeiten. Jens Marco Scherf betonte, dieses Netzwerk könne nur die Kommune erfolgreich initiieren und koordinieren.

Workshop 5: Umgang mit Rechts: Den Rechten die Deutungshoheit entziehen

Mit “Bürgerdialogen unter erschwerten Bedingungen“ befasste sich ein weiterer Workshop: Wie verhindert man, dass die flüchtlingsfreundliche Willkommenskultur in einem Ort kippt, und wie können kommunale Bürgerdialoge gelingen? Die aktuelle Herausforderung sei, dass durch die hitzige und leider oft feindselige Diskussion über Flucht und Migration „Dinge sagbar geworden sind, die man früher nicht sagen konnte“, so Referent Michael Trube.

Dresden: Gespaltene Gesellschaft

Die Dresdener Stadträtin Tina Siebeneicher (Grüne) führte am Beispiel der rassistischen Proteste in ihrer Stadt aus, wie stark das die Dresdener Gesellschaft gespalten habe. „Durch Pegida sind Dämme gebrochen“, sagte sie: Innerhalb eines Jahres, von 2014 auf 2015, habe sich die Zahl rechter Gewalttaten verdoppelt und das Bedrohungspotenzial für Geflüchtete und ihre Unterstützer/innen nehme zu. In diesem Klima der Einschüchterung werde es zunehmend schwieriger, den Gegenprotest zu mobilisieren.

Ebenso habe das bundesweite und internationale Image Dresdens massiven Schaden genommen. Der spürbare Rückgang der Gästezahlen hat auch spürbare ökonomische Folgen, sagte Siebeneicher. Um die Situation zu befrieden, habe man in Dresden bereits einige Dialogformate erprobt – allerdings nicht erfolgreich. Das lag nach ihren Worten daran, dass die Zielsetzung dieser Dialoge nicht klar definiert, die Formate zu groß angelegt und im Dialog keine Grenzen gesetzt worden sind.

Rechte Hegemonie gar nicht erst entstehen lassen

Die Bedeutung der Grenzziehung im Dialog betonte auch Michael Trube von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin: „Wir dürfen nicht zulassen, dass auf Bürgerversammlungen das Grundrecht auf Asyl in Frage gestellt wird.“ Man müsse dort Haltung zu zeigen und klare antirassistische Gegenpositionen vertreten. Er habe bei vielen Bürgerversammlungen einen Reflex bei den Verantwortlichen beobachtet, dem vermeintlichen Informationsbedürfnis der Anwohner/innen automatisch und unreflektiert nachzugeben.

Dabei kann sich allerdings hinter scheinbar sachlichen Fragen nach der Ausstattung der Unterbringung oder der Kriminalität im Umfeld von Unterkünften menschenverachtende Stimmungsmache verbergen, warnte Trube. Bereits im Vorfeld solle man Wortergreifungsstrategien der extremen Rechten und vermeintlich „besorgter Bürger“ einen Riegel vorschieben: Entsprechende Veranstaltungs-Titel und Ausschlussklauseln auf Ankündigungsplakaten machen deutlich, was der Sinn und Zweck der Veranstaltung sein soll und was nicht geduldet wird. Außerdem sollten nicht nur Behörden auf dem Podium vertreten sein, sondern auch Pro Asyl und/oder Migrant/innenselbstorganisationen.

Dies würde auch in den Bürgerversammlungen vor Ort die Lebensrealität von Geflüchteten durch eine entsprechende Podiumsbesetzung sichtbar machen. Ein überschaubarer Rahmen und klar definierte Gesprächsregeln während der Veranstaltung könne ein Kippen der Stimmung verhindern und einen gemeinsamen Dialog von Geflüchteten und AltbewohnerInnen ermöglichen. Dies ist nicht zu unterschätzen, sagte Trube: „Sobald eine rechte Hegemonie existiert, ist es sehr viel schwieriger, diese wieder zu brechen.“

Die Zukunft kommunaler Integrationspolitik

Über Integration im Allgemeinen, Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten von Flüchtlingen sowie die passenden Strukturen diskutierten auf dem Abschlusspodium Landes- und LokalpolitikerInnen von Bündnis 90/Die Grünen. Sie alle gingen mit der Politik der Bundesregierung hart ins Gericht.

Aktionismus der Bundesregierung

Antje Möller, Sprecherin für Innen- und Flüchtlingspolitik der grünen Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft, kritisierte die Aktivitäten der Bundesebene als „Aktionismus, der nicht zu Ende gedacht wird“ und oft kontraproduktiv sei. Und ihre niedersächsische Kollegin Filiz Polat fragte: „Warum muss das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Sprachkurse machen?“ Statt bürokratischer Hürden wie die Vorrangprüfung beim Zugang zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt fordert die Sprecherin für Migration und Flüchtlinge der Landtagsfraktion im Leineschloss durchgehende Förderketten ein.

Länder in der Pflicht

Pico Jordan kritisierte ebenfalls die „Arbeitsverhinderungsmaßnahmen“. Er nahm auch die Länder in die Pflicht. „Bund und Länder müssen klären: Wer hat die Finanzierungs-, Struktur- und Durchführungsverantwortung?“ Das müsse schon in den nächsten Monaten geschehen, mahnte der Dezernent für soziale Infrastruktur in der Region Hannover zur Eile. In seiner Kommunalverwaltung habe man bereits die Strukturen optimiert: Damit die Informationen schneller fließen, tauschen sich in der Regionsverwaltung VertreterInnen unterschiedlichster Abteilungen jeden Freitagmorgen um acht Uhr eine Stunde lang aus. Zunächst sei dies als lästiger Zusatz-Termin empfunden worden, aber „nach vier Monaten sind alle froh, dass es dieses Format gibt“, berichtete Jordan.

Freiräume der Kommunen

Etwas aus der Reihe scherte der Miltenberger Landrat Jens Marco Scherf, der unnötige Bürokratie durch neue Rahmenbedingungen des Bundes befürchtete und bat, „lasst uns vor Ort an den Themen arbeiten“. Gerade in Bayern habe man als Kommune enorme Gestaltungsmöglichkeiten, weil das Land eben keine Vorgaben mache: „Wir haben uns längst auf den Weg gemacht.“ Damit stieß er im Publikum und bei Filiz Polat auf Widerspruch: „Wir haben nicht überall grüne Landräte.“

In ihrem allgemeinen Aussagen nahm das Podium die von Erol Yildiz in seiner Keynote ausgelegten Fäden wieder auf: Antje Möller kritisierte, dass der vorherrschende Diskurs Geflüchtete als vermeintlich homogene Masse zu Objekten mache und Filiz Polat wehrte sich dagegen, Probleme zu ethnisieren. Jens Marco Scherf verwies hingegen auf die positiven Erfahrungen – nicht nur – aus seinem Landkreis Miltenberg mit dem großen Engagement der Bürger/innen: „Die Bevölkerung ist viel weiter.“

Unter Mitarbeit von Alexander Burgdorf, Christian Hinrichs, Claudia Hucker und Lara Röscheisen.

Welche Hilfen brauchen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge? Womit kämpfen ehrenamtliche Helfer/innen, und wo liegen die Schwierigkeiten bei der Berufsausbildung junger Flüchtlinge? Was können kommunale Flüchtlingsdialoge zur Integration beitragen?

Antworten auf diese drängenden Fragen gibt die "Fachzeitschrift für Alternative Kommunal Politik" in der Ausgabe 2/2016.